Endlich endlos

Kein Roman

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Endlich scheint wieder die Sonne. Drei Wochen lang hat es geregnet und in den wenigen Pausen war der Himmel dunkelgrau von Wolken und kalt war es auch, zu kalt für die Jah­reszeit, wie der Wetterbericht das immer so nett und aufmunternd ausdrückt. Aber heute, an diesem Donnerstag im Juni, zeigt das Thermometer 22 Grad, ein paar letzte weiße Wol­ken haben sich aufgelöst.

Trotzdem setzt er sich in seinem Lieblingscafé nicht an einen der eilig im Freien aufgestell­ten Tische. Ich mache das ebenso, selbst im Sommer, weil ich im Freien nicht in die Stimmung komme zu tun, was ich gern tun möchte. Er geht also hinein, nimmt eine der ausliegenden Zeitungen, setzt sich an eines der kleinen, runden Marmortischchen in der Ecke und bestellt wie immer einen Cappucci­no und ein Croissant mit Butter. Bevor er die Süddeutsche Zeitung zu lesen beginnt, tauscht er noch einen langen Blick mit einem großen Hund, der unter einem der Nachbartische zu Füßen eines jungen Paares liegt, schwarzes Fell, die hellbraunen Pfoten als Kopfstütze ausge­streckt. Er hat keine Ahnung von Hunden, weiß also nicht, ob es sich um einen Golden Retriever handelt oder einen Schnauzer oder einen Schäferhund; dass es kein Pudel ist, weiß er immerhin. Und dass das Tier einen tiefen, ruhigen, vielleicht ein bisschen müden Ausdruck in den großen braunen Augen hat, das sieht er, und es beeindruckt ihn. Er ist sonst eher ein Freund von Katzen, hat allerdings keine mehr, seit er mitten in der Stadt in einem kleinen Zwei-Zimmer-Appartement wohnt wohnt, ohne Balkon, im vierten Stockwerk, ohne Lift. Nach die­ser Geschichte damals, über die er nie mehr redet, die er zu vergessen versucht und die dennoch immer wieder in seinen Träumen erscheint und ihn schweiß­nass aufwachen lässt. Worum es da geht, davon werden wir vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt noch ein etwas mehr erfahren.

Plötzlich fängt der Hund an zu knurren, erhebt sich ganz langsam, seine Nackenhaare sträuben sich, er kommt näher, knurrt weiter, aggressiv. Das junge Paar hält die Leine fest, redet auf das Tier ein, schaut böse herüber. Erst als der Hund sich umdreht und sich auf der anderen Seite des Tisches zu Boden gleiten lässt, drehen die beiden sich wieder um und plaudern weiter.

Jetzt beginnt er zu lesen, ein bisschen fahrig, dieser Hund hat ihn erschreckt, er versucht sich zu konzentrieren. Seite 1, Politik natürlich. Aber wieso natürlich? Die Politiker, das weiß er und er sagt das auch in Diskussionen immer wieder, sind doch bloß Handpuppen für die Big Player, die Drahtzieher und Mauschler von der Finanzmafia, die schön unsicht­bar im Hintergrund bleiben. It's the economy, stupid! Clinton hat völlig Recht gehabt, bzw. sein Wahlkampfbe­rater Carville. Was die Spitzenfiguren der verschiedenen Parteien aus ihren Blab­lalabermündern herauslaufen lassen, interessiert ihn nicht, nicht mehr, schon lange nicht mehr. Ebenso wenig, was die zehnmalklugen Kommentatoren sämtlicher Medien schweifwedelnd und über­wiegend zustimmungsdevot an Mentalsenf dazugeben. Er blättert weiter zum Wirtschafts­teil.

Aber so richtig zum Lesen kommt er auch hier nicht. Ein Betrunkener, wie er aussieht wohl ein Obdachloser, ist hereingekommen, an seinen Tisch, hält ihm devot die Hand hin. Eine kleine Gabe, sagt er, ich habe Hunger, nur ein... Weiter kommt er nicht. Zwei kräftige Ober packen ihn an den Schultern und schieben ihn zur Tür hinaus, ob er denn nicht kapiert hätte, dass er hier nicht reinzukommen habe, das nächste Mal setze es was, klar? Es werden immer mehr, denkt er, und das hierzulande, wo doch die Wirtschaft brummt, in dem reichsten Staat in Europa, dessen Kanzlerin den anderen in der EU sagen zu können glaubt, was sie zu tun haben. Empört und hilflos zugleich legt er die Zeitung weg. Er geht aufs Klo. Pinkelt automatisch und ganz selbstverständlich im Sitzen, wäscht dann die Hände und geht zurück an seinen Tisch. Sein Blick fällt auf die Überschrift auf der Seite „Panorama“: Erneut mehr als 400 Flüchtlinge vor Lampedusa gekentert. Also dann doch lieber, zur Beruhigung, Feuilleton. Der Kritiker findet den neuen Roman eines Autors, von dem er noch nichts gehört oder gar etwas gelesen hat, einfach großar­tig. Und der Kalauer „Rauer muss Elektra ragen“ (sic!) ist die Überschrift einer Bespre­chung des Versuchs, die „Orestie“ auf das 20. Jahrhundert anzuwenden. Oh Gott!

Draußen ein Martinshorn. Kommt näher. Der Wagen hält vorm Café. Eine Szene wie in fast allen Fernsehkrimis, man kennt das ja. Kurz darauf stürmen zwei Polizisten, herausgeputzt wie für einen Tatort im Ersten herein. Sie bauen sich vor dem kleinen runden Ecktischchen auf.

Sie sind vorläufig festgenommen! brüllt der erste Beamte.

Wer sind Sie? Wie heißen Sie?! keucht gleichzeitig sein Kollege.

Die Zeitung zusammenfaltend und auf den Tisch legend sagt er, unaufgeregt, fast ein biss­chen amüsiert: Das muss ein Irrtum sein.

Überlassen Sie das gefälligst uns!! Ihren Namen, Mann! Sagen Sie uns endlich Ihren Na­men! Hören Sie nicht gut? Ihren Namen wollen wir wissen!!

Mit groben Griffen reißen sie ihn hoch, trotz seines Widerstandes – hören Sie auf! Ich komm ja schon mit! - zerren sie ihn aus der Tür, in den mit laufendem Motor wartenden Wagen, fahren davon mit Blaulicht und Martinshorn.

Und wer bezahlt jetzt Cappucino und Croissant? Das weiß ich auch nicht.

(Fortsetzung folgt)